Samstag, 4. Oktober 2008

An Island In The Sun

"Ich hasse Morgende" sagte der Typ, als er ungewaschen und völlig ausgelaugt aus dem Zelt heraus in die Gruppe schaute. Jetzt erst bemerkte er, dass er ich war. Denn ich saß hier im Zelteingang und nicht draußen in der Mittagssonne, versammelt mit den Anderen um einen schäbigen Klapptisch auf dem ein Campingkocher thronte, dessen strahlende Blau sich vor dem des Himmels nicht verstecken brauchte. Allerdings war alles strahlende in dieser Stunde definitiv nichts für mich. Stundenlang bin ich nämlich bereits herumgestrahlt, bevor ich mich in meinen Schlafsack lümmelte und versuchte ein wenig Schlaf nachzuholen. Das ein wenig stellte sich nach diesem Versuch als sehr wenig heraus und an Strahlen war momentan nicht zu denken. Ans Strullen dafür schon. Definitiv also ein Grund für mich das Zelt zu verlassen und die Notdurft zu verrichten. Die Fleckige Unterhose mit der Beule als einziges Kleidungsstück, die unter Zittern selbstgedrehte Zigarette und der geschmacklose, ungarische Kaffee aus dem Kocher stehen sinnbildlich für jeden einzelnen Morgen dieses Festivals. Jeder Versuch den Wochentag zu bestimmen oder gar die Uhrzeit stellte sich als Irrgarten verblaßten Erinnerungen und wüsten Verzählungen heraus. Deshalb setzte ich mich auf den letzten unbesetzten Stuhl in die Runde, rauchte still meine Zigarette und blickte nichtsdenkend auf den blauen Kocher.
Jeder Morgen hier, der in gesitteteren Gefilden eigentlich eher früher Nachmittag genannt wird, verhielt sich wie ein jahrelang unbenutzter Dieselmotor. Kraftstoff musste eingefüllt, der Sand und Staub der Erinnerung aufgewühlt und ausgeworfen werden. Dann, mit Röcheln und Scheppern, erinnerte sich das Gerät seiner eigentlichen Bestimmung, um dann nach kurzer Anlaufzeit von einer knappen dreiviertel Stunde wieder pflichtbewusst den Dienst zu tun.
Der Rest der Truppe war fast schon auf Betriebstemperatur, ich selbst wiedereinmal der letzte der den Tag, die Mattigkeit und diesen flauschigen Geschmack im Mund angewiedert begrüßte.
Irgendjemand reichte mir einen Joint. Ich bemühte mich die Tüte zu greifen und parallel um die Identifizierung dieser Person, die mir sehr bekannt vor kam. Doch da hatte ich mir zuviel zugemutet. Ich nahm nur den Joint. Soviel zum Thema Kraftstoff.
Die Zeit verging. Langsam. Langsam nahm ich auch das dumpfe Wummern einer nahgelegenen Bühne wahr und spürte die Wärme der Mittagssonne, trotz des dichten Blätterdaches über uns. Auch erkannte ich die einst nur schemenhaften Gestalten um mich herum, fing an Wörter zu murmeln und bald ratterte dieser alte Dieselmotor in schöner Regelmäßigkeit. Ein neuer Tag auf dem Festival begann, ein neues Abenteuer, verheißungsvoll, wild, ungezähmt und gar nicht mehr so angsteinflößend wie er beim Erwachen wirkte.
Amphetamine halfen diese Prozesse zu beschleunigen und bald schon wurden ausgelassen die Erlebnisse eines jeden Einzelnen vom Vortag erzählt, diskutiert und belacht. Denn Gründe zum Lachen gab es viele. Über Peinlichkeiten, gewagte Mutproben denen man sich unterzog um sich selbst etwas zu beweisen oder einfach nur aus Selbstüberschätzung, irre Bekanntschaften, Fantasien und Realitäten, schlechte Trips oder erfolgreiche Filmrisse. Man startete gemeinsam in dem Abend, verlor sich, traf sich durch Zufall beim Nachlegen auf dem Klo und zog danach gemeinsam durch die Nacht. Von Bühne zu Bühne, immer auf der Suche nach dem Besonderen, dem ES, dem Moment. Pulsierend war das Leben hier, monumental und unaufhaltsam wie eine Schneelawine. Es war nahezu unmöglich die gleiche Person innerhalb der 7 Tage Festival noch einmal zu treffen, es sei denn man verabredete sich. Das Gleichnis suchte sich seinen Weg, Subkulturen inserierten und warben musikalisch nach Gleichgesinnten. Eine friedliche Koexistenz unserer Jugendszenen entstand und löste sich Stunden später auf. In Schläfer, Tänzer, Wanderer zwischen den Welten, Gestalten, Freaks und Bräuten, ein multikultureller Wald mannigfaltiger Gewächse, der sich in den Stunden zwischen 6 und 12 fast komplett selbst rodete um sich kurz darauf eigens wieder aufzuforsten, üppiger und fruchtbarer als zuvor.
Die Gruppe saß noch immer um den Tisch und tauschte sich aus. Als einer bereits ausscherte und über den heutigen Tag redete. Leute wurden zum Bierholen erkohren, andere planten aufgeregt den Konzertablauf, ob der vielfältigen Angebote. Ersteres war bedeutend einfacher und auch leichter zu realisieren, den Ablauf selbst hielt man nie ein, konnte man auch gar nicht. Die Anzahl der Möglichkeiten war zu riesig. Gipsy-Musiker, von denen man noch nie gehört hat stachen große Headliner aus, man gab holländischem Jazz den Vorzug und höllischer Musik den Laufpass. Eben nur weil man gerade da war, zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort und alles um einen herum erschien auch richtig. Und so dachten wir alle, eine halbe Million junger Menschen. Unterschiedlich im Gebaren, aber gleich im Geiste. In Momenten der Unbeschwertheit, in hektischer Entspannung, tollkühn tanzend zu den unterschiedlichsten Töne, sich selbst definierend durch Andersartigkeiten. Und nur wer Morgende ab und an zu hassen weiß, kann den Abend umso mehr lieben.