Dienstag, 7. September 2010

I Hear My Train A Comin'

"Digitales Zeitalter", das klang für mich eigentlich eher nach sinnentleerter Phrase, vergleichbar etwa mit "Soziale Gerechtigkeit". Sicher, die Zeit in der wir leben wird mehr und mehr bestinmt von mikroskopisch kleinen Recheneinheiten die nichts unterscheiden außer Einsen und Nullen. Allerdings bin ich schon seit der Schulzeit Einsen und Nullen mehr als abgeneigt und interessiere mich daher eher für Vieren und Fünfen. Und so musste ich auf ideologisch äußerst schmerzhafte Art und Weise erfahren, wie sehr die digitale Welt bereits Einzug in unsere Gesellschaft hält.

Und das kam so: Eines Abends saß ich in meiner Küche - wo sonst - hörte Musik, laß ein wenig in der Zeitung und hatte eigentlich geplant den Tag ganz gediegen vorbei gehen zu lassen. Und zwar derart gediegen, dass ich noch nicht einmal meinen Arm zum Abschiedsgruß erheben wollte. Der Tag konnte gehen und ich hatte nichts dagegen.
Nun habe ich allerdings eine Bekannte - keine gute, eher eine zweckgebundene, denn Mieten kann ich mir noch schlechter aus dem Kreuz leiern als Masseure Verspannungen - und so sah ich noch nicht einmal auf, als eben jene Bekannte die Küche betrat - Namen spielen zwar keine Rolle aber nennen wir sie einfach Franziska Ner. (Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein: das ist ein Pseudonym, in Wahrheit ist ihr Name Gitta Stäbe.)
Sie kam also in die Küche, ich immer noch am Tisch über meine Zeitung gebeugt ignorierte sie geflissentlich und hatte, wie bereits erwähnt, nicht im Sinn meinem Abend selbigen Sinn noch zu geben. Als sie plötzlich jovial schrie: "Wow - ich liebe ja diese Bücher". Ich schreckte auf, einerseits wegen ihrer mehr als schrillen Stimme, andererseits weil sie sich positiv über Bücher äußerte und das kam mir spanisch vor. Ich persönlich äußere mich ja auch eher selten positiv über Tomaten, es sei, denn sie werden wegeschmissen. Deshalb sah ich kurz auf und vergewisserte mich, dass Franziska nicht gerade im Begriff war sämtliche meiner Bücher wegzuschmeissen.
Und sie tat es nicht, hielt aber eines von mir in den Händen, blätterte mit großen Augen, aber leerem Blick darin herum und fragte mit ihrer Leierkastenstimme "Hast du es gelesen? Kannst du mir das mal ausleihen?". Ich blickte auf das Buch in Ihrer Hand und musste schmunzeln. Sie hielt das Weltbild Taschenlexikon, Band 5 INV - LED in den Händen. Ich fragte mich, ob sie scherzte, verneinte meine Frage und sah davon ab sie dasselbe zu fragen. So eine komödiantische Meisterleistung war ihr definitiv nicht zuzutrauen. Sie meinte es ernst.
Ich erklärte ihr daraufhin, was ein Lexikon ist, dass man es als Nachschlagewerk benutzt und man es zwar lesen könne, dass dies aber weder großen Sinn mache, noch wirklich Spaß oder Nutzen schafft. "Na Klar" sagte sie "da steht ja alles drin. Was man da alles lernen kann...". Ich sagte, sie könne sich das gerne ausleihen, aber alles steht da noch lang nicht drin, dafür sei es nicht dick genug und ausserdem hätte sie ja auch nur Band 5 INV - LED in den Händen. Ich sah sie an, irgendein primitiver Denkprozess schien sich in ihrem kleinen Kopf Bahn zu brechen. "Was?" schrillte ihre Stimme bis zur dreieinhalb Meter hohen Decke und zurück (in solchen Momenten wünsche ich mich immer in ein Vakuum. "Gibt's davon etwa noch mehr, kann man die sammeln?"
Ich spürte, dass ihr Weltbild durch mein Weltbild-Taschenlexikon völlig ins Wanken geriet, doch noch bevor ich zum finalen Schlag ausholen und ihr ein ganzes Lexikon zum Lesen vorlegen konnte, machte wiederum sie mein komplettes Weltbild völlig kaputt. Alles woran ich glaubte, alles was ich hoffte und allem was ich Sinn gab, dem Sieg des Intellekts über die Horden der Schwachsinnigen die sich aus diesigen Mooren erheben, der Glaube an die Freiheit der Liebe, der Musik, des Salzwassergeschmacks und nicht zuletzt die Freiheit des Geistes. All das machte sie mit nur einem Satz zunichte. Sie glotzte noch ungläubig in das von ihr hochstilisierte Meisterwerk, glotzte dann mich an und sagte: "Das ist ja wie Google."